Gestern war ich auf der Veranstaltung Bei Brantner, eine Plattform auf welcher Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Deutschen Bundestag | Bündnis 90/Die Grünen) einen Expert/in/en einlädt, um mit diese/r/m und Interessierten des Publikums über ein bestimmtes Thema zu diskutieren und sich auszutauschen. Gestern ging es um das "Recht auf Zeit". Um Zeitpolitik also. Was aber ist Zeitpolitik? Gibt sie Antworten darauf, seit wann es Uhren gibt? Oder seit wann die Zeit uns davon läuft? Oder möchte sie uns - so wie es auch Debatten um den Mindestlohn gibt - Debatten um die Mindestzeit schenken?
Auf die Frage, wofür ganz allgemein ein Mensch wohl Zeit bräuchte, wenn uns mal in Zukunft eine Mindestzeit außerhalb der Arbeitszeit gegeben wird, konnte ich im ersten Moment nicht antworten. Ich brauchte eben geNAU DIEse Zeit, wie ich sie nach der Reflektion darüber, erst benennen konnte.
Ich hätte es gerne so, dass jeder nach seiner eigenen Uhr zeiten kann. Ich hätte gerne Zeit als ein Gut - wie Luft. Wie es ja auch einmal WAR...
Seitdem Zeit gleich Geld geworden ist - seit der Industrialisierung also - geht es uns postpostmodernen Menschen nur noch um "Optimierung". Wir sind nur darauf aus, die Zeit "ökonomisch" zu "verwerten". Es geht nur noch d'rum, wie wir Zeit "sparen" können. Wie wir Zeit sinnvoller "nutzen" können. In was es "lohnt", Zeit zu "investieren". Am liebsten möchten wie Zeit für ALLES haben.
Und merken gar nicht, welch ökonomische Begriffe in Verbindung mit dem Begriff "Zeit" dominieren...
Wir möchten Zeit für die Familie haben. Zeit für die Arbeit. Zeit für den Sport. Zeit für das Erlernen eines Instruments. Zeit für's Reisen. Zeit für eine neue Sprache. Zeit zum Kochen. Zeit für Freizeit - und selbst unsere "Freizeit" pressen wir in feste Zeiten.
Damit ist aber leider noch nicht genug. Mit der Projektion unseres Zeitverständnisses auf unsere Kinder setzt sich das Rennen um die Zeit fort:
Am liebsten sollen sie nach der Schule zum Turnen, zum Klavierunterricht, zum Sprachkurs, zum Schwimmen. "Und am liebsten sollen sie auch noch fliegen", sagte gestern ein Herr aus dem Publikum, und brachte es auf den Punkt...
Wenn ich ans heutige Studieren denke... Als Studentin würde ich mir gern MEHR Zeit für meine Hausarbeiten nehmen und mich mit einigen Inhalten nicht nur 30 Tage beschäftigen. Ich würde mich gerne nach MEINER Uhr richten und nicht nach Abgabefristen. Also nicht nach jener Zeit, die gesetzt ist. Uns Studierenden wird mittlerweile berechnet, wie viele Punkte wir in welcher Zeit zu sammeln haben. Wie Super Mario oder Super Maria wirken meine KommilitonInnen und ich auf mich, wenn ich FreundInnen oder mich dabei ertappe, wie stark wir darauf ausgerichtet sind, zu erfahren, wie viele PUNKte uns noch fehlen und nicht danach streben zu recherchieren, wie wir die Menschheit einen Schritt näher zur Freiheit und Glückseligkeit bringen könnten. In Form von Ziffern und Zahlen wird in sogenannten Modulhandbüchern offenbart, wie viel wir zu leisten haben. Nicht mehr das, was wir an Wissen uns aneignen könnten... Wir suchen unsere Veranstaltungen also nicht mehr nach Inhalten aus, sondern nach Buchstaben und Creditpoints...
Ich hätte also gerne Zeit für das, was mich WAHRLICH interessiert, statt für den Versuch, omnipräsent zu sein und die Zeit für alles und gleichzeitig für nichts zu investieren.
Und da setzt das Gefühl ein,
Stopp
zu sagen.
Die Zeit
an
zu
hal
ten.
Doch das ist mir nicht erlaubt. Ich darf die Zeit nicht anhalten - nicht allzu lange über Zeit nachdenken.
Sonst..
Ja - sonst verlier' ich wieder Zeit.
Und genau das ist mittlerweile zu unserer Denke geworden. So ticken wir.
Aber so ticken nicht unsere EI_genen Uhren.
Und das vergessen wir postpostmodernen arbeitsgesellschaftlichen Deutschen. Menschen, die nicht damit umgehen können, Zeit zu haben. Es degradieren müssen, wenn jemand mal nicht arbeitet und preisgibt, dass er "Zeit hat". Menschen, die das Gefühl haben, dass der Mensch nur etwas wert ist, wenn er arbeitet.
Oft habe ich das Gefühl, dass es gar nicht um "Effektivität" geht. Denn selbst mit dem Wissen, dass ein Mittagsschlaf die "Produktivität" steigern würde, würde vermutlich kein Chef in Deutschland erlauben, dass seine MitarbeiterInnen im Büro sich kurz einmal auf ein Nickerchen den Kopf auf den Arbeitstisch legen. Denn das ist nicht angesehen. Es ist nicht angesehen, nicht zu arbeiten. Es ist nicht angesehen, "Zeit zu haben".
Frau Dr. Brantner sagte gestern, dass mehr Mütter gerne mehr arbeiten möchten. Aber auch gerne entscheiden dürfen sollten, WIE sie arbeiten. Sie fragt den Experten, ob es insgesamt vielleicht bedeutsamer sei, Antworten auf das WIE zu erhalten statt auf das WIE VIEL ein Mensch arbeiten möchte.
Ich frage mich, ob vielleicht Mütter mehr arbeiten möchten, weil sie unter dem Druck der Gesellschaft leiden und sich nicht mehr trauen, nicht mehr (hier das "mehr" doppeldeutig gemeint) arbeiten zu wollen. Bedenken muss man/frau auch, dass insgesamt eher Frauen davon betroffen sind, mehr arbeiten zu wollen. Denn Frauen verdienen auch weniger als Männer. Und Zeit ist ja heutzutage Geld. Ist das Zeitproblem also nur ein Frauenproblem? Oder nur eher ein Frauenproblem? Es gibt bestimmt einige, die intuitiv mit Ja antworten würden. Aber ich sage Nein. Denn jenseits von Detailfragen, welche gewiss geschlechtsspezifische Differenzen ans Tageslicht bringen würden, stellt meines Erachtens die "deutsche" UmgangsART mit der Zeit bereits die Grundproblematik dar.
Die "deutsche" Art könnte in Form eines Sketches - der wahrscheinlich der kürzeste wäre - dargestellt werden: indem man einen Menschen kurz über die Bühne ziehen lässt, der "Ich hab' ka Zeit!" ruft und wieder von der Bühne verschwindet.
In diesem Sinne: versuchen Sie mal länger auf der Bühne zu bleiben statt immer vorbei zu ziehen.
Versuchen Sie ein bisschen zeitloser zu sein. und damit zeitvolller.
In diesem Sinne: Eine gute Zeit!
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Danke an dieser Stelle an werte Frau Dr. Franziska Brantner, für die impulsreiche Veranstaltung "Bei Brantner", die gestern mit wertem Herrn Dr. Jürgen Rinderspacher begann. Und vor allem auch dafür, dass sie sich die Zeit dafür nimmt ins Gespräch mit Interessierten zu kommen! Auch danke an Herrn Dr. Rinderspacher, welcher extra für uns gestern aus Münster anreiste, um uns auf die Zeit, die wir als solche zu sehr vernachlässigen, aufmerksam zu machen. Damit wir nicht noch mehr an Zeit verlieren!